Corona – wie geht’s weiter?

Freitag, 03.04.2020

Mirko Matytschak

In meinem Beitrag Corona-Mathematik habe ich zu erklären versucht, dass der exponentielle Verlauf einer Pandemie nur eine Folgerung zulässt: Die Regenerationszahl R zu senken. Aber nun, da die vordringlichsten Maßnahmen beschlossen sind, brauchen wir mehr, als mathematische Modelle.

Eine Erfolgsmeldung

Zunächst wollen wir einmal ansehen, ob man Effekte der Maßnahmen sehen kann, die um den 16.03. und den 22.03. ergriffen worden sind. Dazu habe ich einmal die Zahlen zwischen dem 05.03. und dem 02.02. auf einer logarithmischen Achse aufgetragen.

 

  • Hellbraun sind die bestätigten Infektionen.
  • Blau ist eine Gerade, die durch die Werte vom 05.03. und 23.03. gelegt wurde.
  • Schwarz ist die Entwicklung der Todesfälle, die COVID-19 zugeordnet werden.
  • Gelb ist eine Gerade, die über die Werte des gesamten Verlaufs vom 09.03. bis 02.04. gelegt wurde.

Ich wollte am 23.03. wissen, ob ich einer optischen Täuschung unterliege, oder ob sich der exponentielle Verlauf tatsächlich verflacht. Wie man anhand der blauen Geraden sieht, war das der Fall. Man sieht einen deutlichen Knick am 20.03.

Am 28.03. gibt es einen weiteren leichten Knick, den man an der dünnen schwarzen Linie erkennen kann, die über die Werte der letzten 5 Tage gelegt wurde. Die Steigung unterscheidet sich deutlich von der Steigung der letzten Periode zwischen dem 20. und 28.03.

Die Todesfälle folgen ziemlich genau einem exponentiellen Verlauf. Wer möchte, kann eine leichte Neigung nach unten im Verlauf der Kurve entdecken.

David Kriesel hat auf seiner Website die prozentuale Veränderung der bestätigten Infektionen jeweils zum Vortag in einem Diagramm aufgetragen:

Änderungsrate der nachgewiesenen Infektionen

Da solche Differenzialkurven zu heftigeren Ausschlägen neigen, glättet er die Kurve etwas. Die blaue Line könnte man als Erfolgsrate der Maßnahmen interpretieren. Wie in meinem letzten Artikel als Berechnung gezeigt, markiert die blassrote Linie die Zuwachsrate bei ungehemmtem Verlauf. Wir können an der blauen Linie sehen, wie stark wir auf der Bremse stehen.

Lügen wir uns in die Tasche?

An dieser Stelle ist der Einwand berechtigt, ob wir uns hier nicht in die Tasche lügen. Wir haben weiterhin einen exponentiell steigenden Verlauf und verkaufen das Sinken der Steigerungsrate als Erfolg? Das ist tatsächlich berechtigt.

Stellen Sie sich vor, sie fahren mit einer Seifenkiste einen Berg hinunter. Zuerst ist alles ganz nett, aber das Tempo nimmt mit der Zeit immer mehr zu. Sie werden daher die Seifenkistenbremse bemühen, um das Tempo zu drosseln. Vielleicht gelingt es Ihnen nicht, die Seifenkiste zum Stehen zu bringen, aber Sie können das Tempo vermindern. Und selbst wenn Sie das nicht können, vermindern Sie doch zumindest die Beschleunigung. Das kann dann, wenn Sie mit der Seifenkiste an einen Baum fahren, weil Sie die Kurve nicht gekriegt haben, einen erheblichen Unterschied ausmachen. Und natürlich gilt: Das Tempo am Ende ist stark abhängig davon, wie früh Sie die Bremse betätigt haben.

Die blaue Kurve zeigt also: Wir stehen auf der Bremse. Das wird helfen, das Schlimmste zu vermeiden. Dazu muss die Ausbreitungsrate nicht auf 0 herunter.

Wie hoch ist die Dunkelziffer?

Nach der Ergreifung der Maßnahmen, die unser Wirtschaftsleben gegenwärtig massiv lähmen, ist eine der wichtigsten Fragen, wie hoch der tatsächliche Stand der Infektionen ist. Davon hängt die weitere Infektionsgefahr ab, die sich ergibt, wenn die Maßnahmen gelockert oder die Kriterien für die Beschränkungen verändert werden.

Die entscheidende Frage hat bereits Tomas Pueyo in seinem vielbeachteten Artikel behandelt. Ich möchte hier einen Ausschnitt seines Diagramms zum Verlauf der Pandemie in China zeigen.

Verlauf der Pandemie in Hubei

Der Punkt ist, dass es einen tatsächlichen Infektionsverlauf gibt, dessen genaues Ausmaß unbekannt ist, und der den tatsächlich entdeckten Infektionen vorausgeht (blaue Balken). Wir sehen bis zum Lockdown am 22. Januar einen klar exponentiellen Verlauf.

Die tatsächlich entdeckten Fälle (orange Balken) weisen in dieser Zeit ebenfalls einen exponentiellen Verlauf auf, aber eben noch auf einem wesentlich niedrigeren Niveau. Die Annahme, dass es einen solchen tatsächlichen Verlauf gibt, hat zu einem relativ frühen Lockdown mit weitgehenden Einschränkungen der Bewegungsfreiheit geführt.

Wir sehen, dass die tatsächlich gemessenen Fälle in einem Abstand von ca. 9-11 Tagen hinter den tatsächlichen Infektionen herlaufen. Was man aber aus der Grafik nicht entnehmen kann, ist das Zahlenverhältnis zwischen den beiden Kurven.

Man sieht nur die Fälle, die Symptome haben und – durch die Messungen des Umfelds – auch die Fälle, die sich bei den bekannten Fällen infiziert haben. Was man nicht sehen kann, ist die Anzahl der Infektionen, die nicht auffällig wurden.

Diese Zahl kann man nur ermitteln, indem man einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung testet. Also nicht nur die Personen, die aufgrund der Kriterien einen Test benötigen, sondern alle Personen der Testgruppe.

Ab in den Pool!

Wenn man das in einer größeren Anzahl vornehmen wollte, bräuchte man eine Menge Tests. Aber man kann eine interessante Methode anwenden: Man wirft einfach 5 oder 10 Proben in einen Test. Das Verfahren nennt sich Pooltests. Zunächst einmal wird der Pool getestet. Ist er positiv, heißt das, dass mindestens eine der Proben positiv ist. In dem Fall werden die Proben einzeln nachgetestet.

Für die Zwecke eines Massentests kann man jedoch auf die Einzeltests komplett verzichten. Ideal wäre es, wenn sich der Pool vergrößern ließe. Die Idee ist, dass man in einer größeren Granularität misst, dafür aber eine größere Gruppe komplett testen kann.

Das macht man nun in ein paar Gemeinden in Gebieten mit hoher Inzidenz und als Gegenprobe in Gemeinden mit niedriger Inzidenz. Daraus ergibt sich ein Verhältnis zwischen der tatsächlichen Inzidenz und den Zahlen, die mit den bislang verwendeten Methoden ermittelt wurden. Die Hoffnung ist, dass man aus den gesammelten Verhältniszahlen eine Zahl extrahieren kann, die zumindest die Größenordnung angeben kann. Man wüsste dann, wie hoch man die blauen Balken im oben gezeigten Diagramm ansetzen müsste.

Eine kleine Komplikation

Leider verschafft uns das Pool-Verfahren mit den gegenwärtig in Deutschland verwendeten Tests keinen Eindruck davon, wie viele Personen bereits Immunität erlangt haben. Bei vielen ehemals infizierten Fällen wird das Verfahren gar nichts mehr bringen. Das könnte man nun mit einem Verfahren ergänzen, das Antikörper nachweist. An solchen Verfahren wird gegenwärtig fieberhaft gearbeitet. Die haben nun den Nachteil, dass die Infektion ein paar Tage her sein muss, bevor Antikörper auftreten und nachweisbar sind. Jetzt könnte man folgendes tun: Man macht die Pool-Tests und ergänzend Antikörpertests. Damit hat man drei Zahlen zur Verfügung:

  • Pooltests auf Antikörper
  • Pooltests, die das aktive Virus nachweisen
  • Die behördlichen Messungen

Ich behaupte einmal, dass diese drei Zahlen, in ein paar wenigen Pilot-Gruppen erhoben, eine Menge Aufschluss darüber geben könnten, wie groß die unsichtbare Gefahr ist. Entsprechend lassen sich die Maßnahmen daran ausrichten. Dieses Wissen kann man ergänzen mit einem genaueren Studium der Ausbreitungswege. Der Virologe Hendrik Streeck bringt es auf den Punkt, wenn er fragt: Wenn wir den Supermarkt offen halten können, warum nicht auch ein Bekleidungsgeschäft?

Diese Fragen sind nicht leicht zu beantworten, aber man muss daran arbeiten.

Dazu braucht es eine Menge Tests. Die kosten eine Menge Geld. Aber wieviel Geld kosten uns die Rettungsprogramme für Firmen, die wegen des Lockdowns pleite gehen? Ich denke mal, da ist das Geld besser in Tests und Studien investiert, die uns mehr Fakten vermitteln.

Nun denken Sie möglicherweise: Das ist eine so gute Idee, das machen die bestimmt schon. Wie man in dem Interview mit Herrn Streeck erfährt, ist dies scheinbar nicht der Fall. Das genau ist es aber, was wir brauchen. Wir müssen weg von den reinen mathematischen Modellrechnungen. Und wir hätten ein paar Fakten zur Hand, die substanzlosen Kritikern wie Herrn Schreyer* die logischen Fehler ihrer Argumentation näherbringen.

* Siehe meinen letzten Artikel.

Wie geht es weiter?

Die Überlegungen zur Dunkelziffer und zur besseren Abschätzung der Zahl der tatsächlichen Infektionen zeigen bereits, dass es nicht einfach sein wird, das richtige Maß an Beschränkung und Lockerung zu finden, mit dem wir durch die Krise kommen. Sonderwege, wie sie von Schweden beschritten werden, sind nicht falsch, sondern interessant, weil wir daraus lernen können – wobei der schwedische Weg nicht unbedingt auf Deutschland übertragbar ist.

Ich bin davon überzeugt, dass die Beschränkungen der Bewegungsfreiheit erst einmal die richtige Maßnahme waren. Nun muss man sehen, welche Wirkung damit erzielt werden kann. Die Bestimmung der Dunkelziffer ist dabei eine wesentliche Größe.

Über den Brenner mit Trommelbremse

Und dann wird man sich ein wenig zum richtigen Maß hinschusseln müssen. Vielleicht sind Sie alt genug, um sich daran zu erinnern, wie wir Anfang der 80er mit unseren gebrauchten Karren über den Brenner gefahren sind. Die Trommelbremsen sind immer ziemlich schnell heiß gelaufen, weil die Abfuhr der Bremsenergie aus den Trommeln ein wenig suboptimal verlief. Wenn ich die alte Brennerstraße Richtung Bozen gefahren bin, konnte ich nicht immer auf der Bremse stehen. Die wäre überhitzt und hätte dann keine Wirkung mehr gezeigt. Also musste man das richtige Maß an Bremsen und Laufen lassen finden, sodass die Bremse immer wieder abkühlen konnte.

So ähnlich kommt mir das mit der Beschränkung der Bewegungsfreiheit vor. Wir müssen erst einmal herausfinden, wie stark wir die Ausbreitung des Virus abbremsen können. Wir werden es nicht komplett stoppen können, wie bei der letzten SARS-Epidemie 2002-2003. Aber wir können vielleicht die Ausbreitung soweit herunterfahren, dass die medizinischen Einrichtungen nicht komplett überlastet werden.

So weit, so bekannt. Aber wir können nicht dauerhaft so stark auf der Bremse stehen. Die Fragen sind also:

  • In welchen Bereichen lassen sich die Einschränkungen lockern, ohne die Ausbreitung des Virus zu stark zu beschleunigen?
  • Lässt sich durch mehr Wissen über die Mechanismen der Ansteckung vielleicht eine weitere Lockerung erzielen, verbunden mit baulichen bzw. organisatorischen Maßnahmen, die der Ausbreitung entgegenwirken?
  • Kann man die Ausbreitung durch eine intelligente App bremsen?
  • Wie hoch ist die Dunkelziffer und wieviel Immunität ist in der Bevölkerung bereits aufgebaut worden?

Man wird die Maßnahmen anpassen und dabei sicher nicht auf Anhieb das richtige Maß treffen. Das wird zu neuen Ausbreitungswellen führen, die dann wieder eingedämmt werden müssen, sprich: eine Verschärfung der Maßnahmen nach sich ziehen.

Das wird sich anfühlen, wie eine Fahrt über den Brenner mit Trommelbremse. Und man wird niemandem einen Vorwurf machen dürfen, dass die Maßnahmen zu streng oder zu locker waren.

Aber man wird den Vorwurf äußern dürfen, dass zu wenig Wissen erworben wurde – falls das weiterhin der Fall ist. Die Kosten für Tests und Studien liegen weit unter den Kosten eines dauerhaften Lockdowns.

Denn eins ist klar: Wir müssen von dem Berg herunter. Übersetzt heißt das: Wir müssen Immunität erreichen. Und da wir von einer Impfung noch weit entfernt sind, wird das nur durch natürliche Immunisierung gehen. Aber wenn, dann bitte mit Bremse.

Wer sich nun für mathematische Modelle interessiert, wie diese schubweise Immunisierung funktionieren könnte, der sei auf den neueren Artikel von Tomas Pueyo verwiesen, unter dem vielsagenden Titel: The Hammer and the Dance.

Zurück zur Containment-Phase

Update 08.04.2020: Hier ist ein sehr schönes Video von Mai Thi Nguyen-Kim, die neulich in den Tagesthemen als Expertin geladen war. Das Fazit ist, dass wir auf die Herdenimmunität nicht hoffen können. Das aber wiederum bedeutet, dass die Maßnahmen, die wir ergreifen, die Verbreitung des Virus auf eine Regenerationsrate von gut unter 1 drücken müssen, um zurück in die Containment-Phase zu gelangen, in der die Ausbreitung unter Kontrolle gehalten werden kann. Dazu müssten wir die Anzahl an aktiven Infektionen auf etwa 1.000 drücken.

Mit Hilfe des Pandemie-Rechners, den ich bereits in meinem ersten Artikel erwähnt habe, zeigt sie sehr schön, dass wir in knapp 60 Tagen auf diesen Stand kommen können, wenn es uns gelingt, die Regenerationsrate R auf 0,5 zu senken. Dann könnten die Eindämmungsmaßnahmen Schritt für Schritt aufgehoben werden.

Ich halte die Argumentation für schlüssig. Voraussetzung dafür ist ein weit verbreiteter Einsatz einer App, die wirklich funktioniert. Wie das genau geht und warum man sich von der App einen Erfolg verspricht, kann man in diesem Podcast mit Herrn Drosten ganz gut nachvollziehen.

Kernaussage ist: Wenn die Behörden von einer Infektion erfahren, ist es meist schon zu spät, um das Umfeld vor einer Infektion zu warnen. Eine App könnte helfen, dass das schneller geht. Wenn eine Person erkrankt, könnte das Umfeld der Person unmittelbar gewarnt werden und würde sich prophylaktisch in Quarantäne begeben, bis die Ausgangsperson getestet ist. Ist der Test negativ, kann die Quarantäne aufgehoben werden, ist er positiv, hat man das Ziel erreicht: Man hat die Verbreitungskette unterbrochen.

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